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Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende Nr. 21/2022. Die aktuelle Ausgabe lesen Sie hier.

Die Überreste des Urwalds liegen zu ordentlichen Linien zusammengeschoben am Boden. Riesige Stämme, zum Teil jahrhundertealt, verkohlt auf der hellbraunen Erde. Es gibt kein Gebüsch oder Gras mehr. Denn aus diesem Stück Regenwald soll ein Soja-Acker werden. Das Feld ist 475 Hektar groß, viermal so groß wie die Hamburger Altstadt.

Eine abgeholzte Fläche in der Nähe von Santarém im Oktober 2021: Josenildo dos Santos Munduruku kämpft gegen die Zerstörung des Regenwaldes. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Josenildo dos Santos Munduruku steht am Rand des Feldes. Am Morgen hat er sich mit dem Finger rote Striche über Augenlider und Nasenrücken, auf Wangen und Kinn gezeichnet. Er hat sich eine Kette aus getrockneten Açai-Perlen umgelegt und einen Kopfschmuck mit roten Federn aufgesetzt. Er sagt: "Wer Soja aus dem Amazonas kauft oder Tiere isst, die es gefressen haben, zerstört unser Leben hier."

Der 34-Jährige ist so etwas wie der inoffizielle Bürgermeister des Dorfes Açaizal, das im Norden Brasiliens liegt. Dos Santos will seine Gemeinschaft, die Munduruku, vor den Farmern beschützen, die den Regenwald abholzen. Allein im vergangenen Jahr wurden in diesem Feld 200 Hektar gerodet. Er blickt über die Aschehäufchen, die mal sein Wald waren. Nur ein paar Stämme ragen noch in den Himmel.

Das Soja, das aus Brasilien nach Europa verschifft wird, kommt meist aus Zentralbrasilien, zunehmend aber auch aus Regionen im Norden des Landes. Regionen wie der Heimat von dos Santos. Von hier aus fahren die großen Schiffe den Amazonas entlang bis zur Küste, bevor sie über den Atlantik nach Europa übersetzen. Und so kommt es, dass das Dorf der Munduruku im Regenwald verbunden ist mit dem Schnitzel, das in Hannover oder Cuxhaven auf den Teller kommt. Kein Land in der EU produziert so viel Fleisch wie Deutschland, kein Land auf der Welt so viel Soja wie Brasilien. Für das Fleisch braucht man Soja, zur Fütterung der Hühner, Schweine und Rinder – und um Soja anzubauen, wird in Brasilien Regenwald gerodet.

Wie gefährlich das ist, ist seit Langem bekannt: Forschende warnen seit Jahren davor, dass der Amazonas einer der wichtigsten Stabilisatoren fürs Weltklima ist. Stirbt der Wald, setzt er mehr Treibhausgase frei, als er aufnimmt. Dann könnte sich das Klima so sehr verändern, dass die Lebensgrundlage von Millionen Menschen zerstört werden würde.

Und doch brennt dieser Wald jedes Jahr. Holzfäller, Viehwirte und Soja-Produzenten zerstören Schicht für Schicht der dichten Pflanzendecke, in der die Treibhausgase gespeichert sind. Auf die gewonnenen Flächen stellen sie meist Rinder, aber wo es möglich ist, pflanzen sie Soja. In Brasilien bedeckt die Soja-Pflanze inzwischen eine Fläche von mehr als 350.000 Quadratkilometern.

Das Dorf Açaizal ist nach der Frucht der Kohlpalme benannt. Kinder klettern auf die über 20 Meter hohen Bäume, um Açai zu ernten. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Wer in Deutschland in den Supermarkt geht, bekommt dort ein Schweinelendchen in Schwarzbier-Marinade für 2,82 Euro. 700 Gramm Kotelett gibt es für 4,29 Euro, Geflügelwürstchen im Achterpack für 2,79 Euro. Unter Namen wie "Gut Ponholz", "Grillmeister" oder "Meine Metzgerei" verkaufen Netto, Lidl und Aldi ihre Fleischprodukte. Bei Rewe gibt es Putenschnitzel von "Wilhelm Brandenburg" und bei Kaufland von "K-Purland".

Auf den Verpackungen prangen Labels, etwa das QS-Prüfzeichen, ein anderes für Tierwohl oder eines, das Qualität aus Deutschland verspricht. Dem Verbraucher wird vermittelt: Mit diesem Produkt ist alles in Ordnung.

Aber könnte in diesen Produkten auch Soja stecken, für das der Regenwald gerodet wurde? Ein etabliertes Label für entwaldungsfreie Lieferketten gibt es nicht. Auf ihren Websites nehmen die Unternehmen die Abholzung des Regenwaldes zur Kenntnis und geben an, etwas dagegen tun zu wollen. Wie sie aber feststellen wollen, ob das Soja in ihrer Lieferkette aus Brasilien kommt, womöglich von einem Stück illegal gerodetem Regenwald – darüber geben die Firmen auch auf Nachfrage keine Auskunft.

Wilhelm Windisch, Professor für Tierernährung an der TU München, schätzt, dass ein Schwein bis zur Schlachtreife etwa 250 Kilogramm Futter frisst, hauptsächlich Getreide und Mais. Entscheidend ist allerdings der kleine Anteil an Protein im Futter, denn gerade dadurch wächst das Schwein schnell. Um das zu erreichen, kaufen deutsche Züchter jedes Jahr Millionen Tonnen Soja, vor allem aus Brasilien. 5,6 Millionen Tonnen Soja imporierte Deutschland vergangenes Jahr insgesamt – davon kamen 2,6 Millionen Tonnen aus Brasilien.

Abholzen, abbrennen, aufstapeln, wieder anzünden: Soll Regenwald zu Acker werden, ist das der Ablauf. Holzarbeiter haben die Urwaldreste zu Linien aufgetürmt, die sie noch einmal anzünden werden. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Die größten Getreidehändler der Welt sind Firmen mit Namen wie ADM, Bunge, Louis Dreyfus oder Cargill, ein großer Händler aus den USA. 2006 gaben diese Unternehmen ein Versprechen: Sie wollten die Zerstörung des Regenwaldes für den Soja-Anbau stoppen. Mit einem Abkommen, dem sogenannten Soja-Moratorium, verpflichteten sie sich, nicht mehr mit Soja zu handeln, das auf Amazonasflächen gepflanzt wurde, die nach 2008 gerodet wurden. Das Abkommen gilt bis heute. Und zunächst gingen die Brände tatsächlich zurück.

Inzwischen jedoch ist klar: Das Versprechen existiert vor allem auf dem Papier. Es ist gut fürs Marketing, aber hilft dem Regenwald nicht. Vor zwei Jahren ermittelte ein Forscherteam, dass mindestens ein Fünftel des brasilianischen Sojas, das in Europa landet, auf illegal entwaldeten Flächen angebaut wurde – zu uns kommt es über die Lieferketten der größten Getreidehändler der Welt, denn sie sind es, die die Silos und Häfen betreiben.

So auch Cargill, der Händler aus den USA. Das Unternehmen betreibt das Soja-Terminal im Hafen von Santarém am Amazonasstrom, in der Nähe der Heimat von Josenildo dos Santos aus dem Dorf Açaizal.

Cargill kauft kein Soja, das auf Regenwaldflächen angebaut wurde, die nach 2008 gerodet wurden, so teilt es der Konzern mit.

Vor rund 20 Jahren hat die US-Firma Cargill einen neuen Soja-Hafen in Santarém gebaut. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Im Oktober 2021 stehen Tim Boekhout van Solinge, ein zwei Meter großer Niederländer, und Josenildo dos Santos, der inoffizielle Bürgermeister von Açaizal, auf einer gerodeten Fläche in der Nähe des Dorfs. Van Solinge hat ein Ziel: Er will den Wald retten. Dafür ist er so etwas wie ein Waldkriminologe geworden. Gemeinsam mit dos Santos beugt er sich über eine kleine Kamera, auf der ein Video zu sehen ist, das die neuesten Rodungen dokumentiert.

Der Niederländer Tim Boekhout van Solinge stattet die Munduruku mit GPS-Kameras aus. Damit dokumentieren sie Brände und Rodungen in ihrem Gebiet. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Van Solinge stattet schon seit 2015 indigene Gemeinschaften im Amazonasgebiet mit GPS-Kameras aus, um Rodungen und Brände zu dokumentieren. Er unterstützt die Munduruku auch dabei, Polizei und Staatsanwaltschaft auf die Missstände aufmerksam zu machen. In dem Bundesstaat der Munduruku gebe es eine extrem hohe Mordrate durch Schusswaffen, sagt van Solinge. "Hier werden mehr Leute erschossen als in Rio." Und viele Konflikte seien mit dem Kampf um den Wald verbunden, oft gehe es um Landrechte.

Auch die Munduruku sind betroffen, seit sie das Dorf, in dem sie seit Generationen leben, gegen Eindringlinge verteidigen müssen. Immer wieder, so berichtet es dos Santos, würden Farmer und Landräuber mit schweren Jeeps zwischen die Wellblechhütten fahren und Frauen und Kinder auffordern, zu verschwinden.

Links Wald, rechts Feld: Seit der US-Händler Cargill das Soja-Terminal im Hafen von Santarém gebaut hat, haben die Rodungen zugenommen. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Ein Farmer hat sich nah an das Dorf herangerodet

Rund 20 Jahre ist es her, dass der Soja-Händler Cargill nahe dem Dorf von dos Santos einen neuen Hafen baute. Es war eine Investition, die neue Infrastruktur brachte und die Gegend für Landspekulanten, Großhändler und Soja-Bauern interessant machte. Mittlerweile beginnen die Soja-Flächen gleich hinter den Häusern der Munduruku. Ein Farmer hat sich besonders nah an das Dorf herangerodet, so nah, dass die Pestizide mit dem Regen direkt in den Fluss im Dorf gespült werden. Früher hätten sie dort gefischt und das Wasser getrunken, sagt dos Santos. Aber irgendwann bekamen die Kinder nach dem Schwimmen Ausschlag.

Vor dem Cargill-Hafen in Santarém liegt ein Frachter. Von hier aus fahren die Schiffe über den Amazonas und den Atlantik bis nach Europa. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT
Pestizide von den umliegenden Soja-Feldern werden in der Regenzeit in die Gewässer der Munduruku geschwemmt. In vielen können die Kinder deshalb nicht mehr baden. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Nachdem van Solinge und dos Santos die Videos auf der Kamera ausgewertet haben, steigen sie in ein Auto und holpern eine Viertelstunde durch den Regenwald, bis zu einem Haus, vor dem sich heute die Vorsitzenden der Munduruku-Dörfer der Gegend versammeln. Van Solinge möchte wissen, wie es der Gemeinschaft geht. Dos Santos erzählt: Der Farmer, der die angrenzenden Felder bestellt, sei wieder im Dorf gewesen und habe ihn und seinen Sohn bedroht: "Wenn euch etwas passieren würde, dann wäre das praktisch für mich, hat er gesagt."

Josenildo dos Santos Munduruku ist 34 Jahre alt und einer der Caciques, der Vorsitzenden der Munduruku. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Die Stimmung während der Versammlung ist gedrückt. Die Teilnehmer klagen, nichts habe gegen die Rodungen geholfen, nicht die Dokumentation der Brände mit der Kamera, nicht die Briefe an den Präsidenten.

Seit der US-Händler Cargill das Soja-Terminal im Hafen gebaut hat, haben die Munduruku etwa 18 Prozent ihres Gebietes verloren. Und zuletzt nahmen die Abholzungen offenbar noch zu. Während sich die Landkonflikte in südlicheren Gebieten allmählich legen, weil der Regenwald abgebrannt ist und die Felder aufgeteilt sind, bietet der Norden noch immer viel Potenzial für Landräuber.

Ein Rodungsfeuer im Amazonas-Gebiet. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Dabei ist politisch klar, dass Rodungen verhindert werden sollen – nicht nur die des Regenwaldes, sondern aller Wälder weltweit. Beim Weltklimagipfel in Glasgow im vergangenen Jahr einigten sich mehr als hundert Staatschefs darauf, die Abholzung der Wälder ab 2030 zu stoppen. Sogar der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro willigte ein. Gleichzeitig sagte er, der Amazonas habe großes wirtschaftliches Potenzial – und mit ihrem Wald dürften die Brasilianer umgehen, wie sie es für richtig hielten.

Überhaupt ist es kaum möglich, den Regenwald zu überwachen, dafür ist er zu groß. Wenn es im Amazonas brennt, brennt es an so vielen Stellen zugleich, dass die Polizei, die Feuerwehr und das zeitweise dafür abgestellte Militär unmöglich hinterherkommen. Die Überwachung erfolgt aus dem All. Brasilien betreibt eines der fortschrittlichsten Satellitensysteme zur Waldbrandüberwachung. Wenn eine Kamera einen Waldbrand erspäht, meldet die Weltraumagentur das an die Polizeibehörden, die den Brandstifter ausfindig machen sollen. Doch die Fläche des Amazonas-Regenwaldes ist eineinhalbmal so groß wie die Europäische Union, sie reicht über die Grenzen von neun Ländern, weite Teile sind nur mit dem Flugzeug oder über tagelange Bootsfahrten zu erreichen. Und diejenigen, die den Regenwald roden, gehen dabei immer einfallsreicher vor. Um den Satelliten zu entgehen, legen Soja-Bauern, Landspekulanten oder Holzfäller die Brände gern, wenn die Wolkendecke so dicht ist, dass der Rauch der Feuer nicht mehr auffällt.

Wenn es im Amazonas brennt, wird das Feuer oft nicht entdeckt. Oder Polizei und Feuerwehr kommen zu spät – oder Präsident Bolsonaro behauptet einfach, es habe nicht gebrannt. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Hinzu kommt, dass selbst der Präsident des Landes die Brände oft leugnet. Berichte der Weltraumagentur über die fortschreitende Waldzerstörung bezeichnete Bolsonaro als Lüge, einen Chef der Agentur entließ er. Zugleich kürzte er die Mittel der Umweltpolizei, was dazu führte, dass die Behörde weniger Bußgelder verhängt. Jair Bolsonaro ist zum mächtigsten Gegner derer geworden, die den Regenwald schützen wollen. Seit er 2019 an die Macht kam, hat das Abholzungstempo wieder signifikant zugenommen.

Besonders skrupellos geht Bolsonaro gegen indigene Gemeinschaften vor. Er beschuldigt sie, zu viel Territorium zu beanspruchen, einige Morde an Indigenen leugnete er. Die größte indigene Organisation Brasiliens wirft ihm vor, für den Tod von über tausend Menschen verantwortlich zu sein, und hat ihn wegen Völkermords vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verklagt.

Ein Lkw-Parkplatz kurz vor Santarém am Rand der Soja-Straße BR-163 © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Es ist ein Sonntag im Oktober vergangenen Jahres und noch nicht Mittag, da sitzen in einem Imbiss drei Soja-Fahrer und trinken ihr erstes Bier. Santarém, die 300.000-Einwohner-Stadt, in der der Soja-Hafen von Cargill liegt, ist von hier aus nicht mehr weit. Während die Männer auf ihren nächsten Auftrag warten, erzählen sie davon, wie viel sie arbeiten und wie wenig sie verdienen. Fast jeden Tag sind sie auf der BR-163 unterwegs, der wichtigsten Soja-Straße der Welt, eine Piste voller Schlaglöcher. Einer der Männer trägt Flipflops, seine Zehen sind rotbraun vom Staub. Er heißt Fernando Hildo Meyer und kam vor 20 Jahren als Lkw-Fahrer her. Inzwischen beschäftigt er fünf Fahrer und hat seine eigene kleine Soja-Farm.

Das System Soja funktioniert auch, weil der brasilianische Staat Menschen wie Hildo Meyer verspricht, dass der Handel mit Soja sie reich machen wird. "Niemand, der arm ist, will das bleiben", sagt Hildo Meyer. Männern wie ihm nutzt es, wenn Regenwald für Soja gerodet wird. Die Indigenen hingegen, findet Hildo Meyer, würden zu viel Platz beanspruchen, auf dem sie nichts produzierten.

Lastwagen transportieren die Soja-Ernte Tausende Kilometer weit durch Brasilien. Fernando Hildo Meyer kam vor 20 Jahren als Lkw-Fahrer nach Santarém. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Satellitendaten zeigen, dass rund um Santarém viel Regenwald verschwunden ist und zahlreiche Soja-Felder entstanden sind, seit Cargill in die Gegend gekommen ist. Eigentlich sollte das Soja-Abkommen dafür sorgen, dass genau das nicht passiert. Stattdessen setzte es eine fatale Kettenreaktion in Gang. Nachdem das Abkommen geschlossen war, zog es Farmer aus dem Süden in den Norden. Viele von ihnen übernahmen Land von Viehbauern, die den Regenwald bereits beseitigt hatten, um ihre Rinder weiden zu lassen. Denn wenn Amazonaswald für Weideflächen gerodet wird und erst später Soja darauf gepflanzt wird, fallen diese Flächen nicht unter das Soja-Moratorium, das nur die Abholzung direkt für Soja verbietet.

Aus Regenwald wurde also erst eine Weide und dann ein Soja-Feld.

Viele Soja-Farmer übernehmen Land von Viehbauern, die den Regenwald beseitigt haben, um ihre Rinder weiden zu lassen. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Kein Unternehmen sagt, wie viel Soja aus welchem Land in der Lieferkette steckt

Die Viehbauern aber zogen weiter, suchten sich neue Flächen in der Nähe, auf denen sie Regenwald für Weiden rodeten. In den Jahren 2001 bis 2019 verzehnfachte sich die Soja-Anbaufläche allein im brasilianischen Amazonasgebiet, von 0,4 Millionen Hektar auf 4,6 Millionen Hektar – so schnell wie nirgendwo sonst in Südamerika.

Es gibt in Brasilien ein Gesetz, das den Regenwald schützen soll: den Código Florestal. Das Problem ist nur: Zu wenige Aufpasser kontrollieren die Einhaltung und bestrafen Verstöße.

Um einen Überblick zu behalten, wem überhaupt welches Stück Wald gehört und welche Teile davon geschützt werden müssen, führte die Regierung ein Landregister ein, das die Abkürzung CAR trägt. In dieses Register tragen die Land- und Forstwirte ihre Grundstücke inzwischen aber einfach bloß noch selbst ein. Mit diesen Einträgen weisen sie unter anderem bei Händlern nach, dass ihnen die eingetragene Fläche gehört. Doch die eingetragenen Informationen werden während der Registrierung nicht überprüft.

Manoel Batista Rocha ist der Älteste der Munduruku. Josenildo dos Santos soll seine Rolle irgendwann übernehmen. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Tatsächlich sind viele Eintragungen offensichtlich falsch. Für das Gebiet der Munduruku zeigen die Daten, dass dort etwa 17 Prozent mehr Land in Form von Grundstücken eingetragen ist, als überhaupt an Fläche zur Verfügung steht. Neun Prozent der Felder sind auf Waldflächen registriert, die als natürliche Vegetation bewahrt werden sollten.

Studien deuten darauf hin, dass es in anderen Amazonasregionen ähnlich ist. Demnach hat es das Landregister etwa für Soja-Farmer sogar einfacher gemacht, Land von indigenen Völkern für sich zu beanspruchen. Denn bei einem Streit um Land können Farmer anführen, ihr Grundstück bereits im offiziellen Landregister CAR registriert zu haben. Und nach Auskunft der Farmer erkennen Soja-Händler wie Cargill das CAR-Zertifikat als Beleg für rechtmäßigen Landbesitz an.

Der Umaicá-See begrenzt das Gebiet der Munduruku im Norden. Die Gemeinschaft hat Angst, dass hier auch ein Hafen gebaut werden könnte. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Auch die deutschen Supermarktketten verlassen sich auf Organisationen wie etwa den Round Table for Responsible Soy (RTRS) mit Firmensitz in der Schweiz, der auch das Soja zertifiziert, das als Tierfutter eingesetzt wird. Die Kontrollen in Brasilien führt der RTRS nicht selbst durch, sondern nutzt dafür ein Subunternehmen. Diese Firma führt einmal im Jahr Besuche bei den Farmern durch, die in das Programm aufgenommen wurden. So überprüfen die Kontrolleure die Arbeitsbedingungen der Erntehelfer, welche Pestizide eingesetzt werden, ob Landkonflikte bestehen und ob gerodet wurde.

Fraglich ist allerdings, ob sich Landkonflikte so ermitteln lassen. Weil Programme wie dieses freiwillig sind, ist es wahrscheinlich, dass sich ein Farmer, der einen Konflikt mit einer indigenen Gemeinschaft hat, gar nicht zertifizieren lässt. Ohnehin wird nur ein geringer Anteil des Sojas zertifiziert, und zwar meist der kleine Teil, der direkt in der Lebensmittelproduktion für den Menschen landet, also im Tofu oder der Soja-Milch. Von den 350 Millionen Tonnen, die 2021 weltweit geerntet wurden, zertifizierte der RTRS nur 4,6 Millionen Tonnen, also etwa ein Prozent der Gesamternte.

Das QS-Prüfzeichen gilt als eine Art Lebensmittel-TÜV und ist auf die Verpackung fast aller Fleischprodukte in deutschen Supermärkten gedruckt. Das Prüfzeichen soll garantieren, dass Futtermittel, Tierwohl, Schlachtung und Verpackung den deutschen Standards entsprechen. Dieses Prüfzeichen könnte künftig auch das Thema Entwaldung abdecken, also auch die Frage, ob das Soja für die Fütterung der Tiere von dafür gerodeten Wäldern stammt. Kürzlich wurde eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die genau diesen Bereich bearbeiten soll.

Bislang jedoch gibt es keine funktionierende Zertifizierung für entwaldungsfreies Soja in einer relevanten Menge. Trotzdem erklären Supermarktketten, dass sie ihren Anteil an zertifiziertem Soja erhöhen. Auf vielen Websites finden sich Absichtserklärungen, meist auf einen ungewissen Zeitpunkt in der Zukunft gerichtet. Stichtage, an denen Lieferketten frei von illegaler Entwaldung im Amazonas sein sollen, werden immer wieder nach hinten verschoben. Die Leitlinie für Soja als Futtermittel von Rewe stammt aus dem Jahr 2013, bislang ist offenbar wenig passiert.

Auf Nachfrage verweisen große deutsche Händler wie Rewe, Edeka, Lidl oder Metro auf bunte Flyer oder Unternehmenswebsites in Grüntönen, auf denen sie sich gegen Entwaldung positionieren. Kurz vor Veröffentlichung dieses Artikels weist Aldi die ZEIT auf ein gerade veröffentlichtes Standpunktepapier hin, in dem sich das Unternehmen dazu verpflichtet, Entwaldung entlang seiner Lieferketten mit hoher Priorität bis Ende 2030 auszuschließen.

Einzelne Paranuss-Bäume lassen die Farmer beim Abholzen übrig, denn sie sind vom brasilianischen Gesetz besonders geschützt. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Das Problem: Es gibt derzeit gar keinen Weg festzustellen, ob importiertes brasilianisches Soja auf gerodeten Gebieten geerntet wurde. Um dieses Problem zu umgehen, geben viele Supermärkte an, insgesamt weniger oder gar kein Soja aus Brasilien in ihren Lieferketten haben zu wollen. Aber keines der Unternehmen beantwortet die Frage, wie viel Soja aus welchem Land in seiner Lieferkette steckt.

Stattdessen zeigen die Außenhandelsstatistiken, dass die Einfuhrmenge von brasilianischem Soja nach Deutschland kaum kleiner wird. Jedes Jahr kommen unzählige Soja-Lieferungen mit riesigen Frachtern an, in sogenannten Bulkcarriern, die über 200 Meter lang und dafür gemacht sind, loses Schüttgut in Schiffsbäuchen so groß wie Kirchenschiffe zu transportieren. Viele Lieferungen erreichen Deutschland über die Niederlande.

Die Umweltorganisationen Mighty Earth und Robin Wood ermittelten, dass Händler wie Cargill das Soja in Rotterdam oder Amsterdam auf kleinere Schiffe laden, die es bis zum Örtchen Haren an der Ems fahren. Dort hat Rothkötter, einer der größten deutschen Fleischproduzenten, seinen eigenen Futtermittelhafen. Dieser Umweg über die Niederlande ermöglicht es deutschen Einzelhändlern und großen Getreidelieferanten wie Cargill, weiter zu behaupten, dass sie kein Soja nach Deutschland importierten.

Eine Soja-Farm in der Nähe von Santarém: Im Oktober wächst hier Gras, im Dezember wird Soja gepflanzt. © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Wer das brasilianische Soja, für das Regenwald gerodet wurde, denn offiziell abnimmt, beantworten die beteiligten Unternehmen schlicht nicht, auch Cargill, der Händler, sagt dazu nichts. Und die Supermärkte wollen nichts damit zu tun haben. Auf Nachfrage stellen weder sie noch die Händler einen Ansprechpartner zur Verfügung. Niemand will etwas mit dem brasilianischen Soja zu tun haben.

Im Oktober vergangenen Jahres brennt es bei den Munduruku im Amazonas wieder. Ein Soja-Farmer holt sich einen weiteren Teil des Gebiets, in dem die indigene Gemeinschaft seit Generationen lebt. Wieder hat jemand illegal Feuer gelegt. Wieder steht Josenildo dos Santos, der inoffizielle Bürgermeister des Dorfs, hilflos daneben und lässt die Schultern hängen.

Dos Santos hat sich vorgenommen, gegen die Rodungen zu kämpfen. Dafür arbeitet er mit Aktivisten zusammen, dafür spricht er mit der Reporterin der ZEIT. Er will, dass die Welt von dem Unrecht erfährt, das um sein Dorf herum geschieht. Und während er so auf das abgebrannte Feld schaut, taucht am anderen Ende der Brachfläche, einige Kilometer entfernt, der Jeep des Farmers auf. Es wird noch einige Minuten dauern, bis er Josenildo dos Santos erreicht, aber dos Santos nimmt schon einmal seinen Kopfschmuck ab. Der Farmer von nebenan soll nicht wissen, dass sein Volk auf Kriegszug ist. Das wäre zu gefährlich.

Die Soja-Felder sind immer näher an ihr Dorf herangerückt: Manoel Batista Rocha und Josenildo dos Santos im Oktober 2021 © Victor Moriyama für ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

Mitarbeit: Flavio Gortana und Claudia Vallentin