„Jeden Tag habe ich Waren im Wert von ungefähr 23.000 Euro vernichtet.”
Mitarbeiterin von Amazon Deutschland

Die 
Wegwerf-
Maschine

Der Onlinemarktführer Amazon verschrottet palettenweise Waren. Interne Dokumente, Fotos und Berichte von Insidern zeigen, welche Verschwendung in den Lagern des Onlinegiganten stattfindet. 

Der Berg aus Staubsaugern, Faxgeräten und Computern türmt sich meterhoch. Ein Bagger fährt heran, die Schaufel voll beladen mit noch mehr Elektromüll. Der Schrotthaufen ächzt und kracht, als die Baggerschaufel ihn berührt. Wasserkocher, Toaster und ein alter Spielautomat rutschen hinab. Zwischen alten Kabeln und verschmutzten Gehäusen blitzen ein Bügeleisen und ein Föhn auf. Sie wirken nagelneu, funktionstüchtig auch. In der Halle dahinter stehen Drucker und Lautsprecher noch in ihren Verkaufskartons. Und doch ist das alles nur noch Schrott.

In den nächsten Stunden und Tagen werden Föhn und Toaster und selbst die Lautsprecher in ihren Verpackungen in den Recyclingmaschinen des Entsorgungskonzerns Remondis im westfälischen Lünen verschwinden. Die Geräte werden zerhäckselt und zertrümmert, um so am Ende aus den Resten zumindest die wertvollen Rohstoffe herauszusortieren. Warum diese einwandfreie Ware überhaupt in der Recyclinganlage landet, weiß hier vor Ort niemand genau. Allerdings komme das öfter vor, heißt es bei Remondis. Und auch den Grund dafür meinen hier viele zu kennen: das wachsende Geschäft von Onlinehändlern, allen voran von Marktführer Amazon. Für die lohnt sich der Verkauf einmal zurückgeschickter oder schon zu lange gelagerter Ware oft nicht mehr. Also wird sie zerstört.
Der Schrottberg von Remondis
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Der offensichtliche Überflussirrsinn ist Routine, vor allem bei Amazon. Tag für Tag werden von Einzel- und Versandhändlern palettenweise neue und unbenutzte Produkte verklappt: Shorts und Shirts, Tablets und Turnschuhe, Modeschmuck, Möbel und Matratzen. Verbrannt. Gepresst. Gehäckselt. Geschreddert. Nur gespendet wird selten.

Recherchen der WirtschaftsWoche und des ZDF-Magazins "Frontal 21" decken nun die dunkle Seite von Amazons Versandimperium auf: Interne Dokumente, Fotos und Berichte von Augenzeugen zeigen erstmals im Detail, in welchem Ausmaß Amazon und andere Handelsriesen Produkte ausrangieren und vernichten. Darunter eben nicht nur unbrauchbarer Plunder, sondern auch nagelneue Ware - wie dieser blinkende Schuh. 
Schuh in Flammen
Der WirtschaftsWoche liegen Excel-Listen vor, in denen die entsorgten Artikel jeder Schicht dokumentiert sind. Einige Produkte derselben Artikelnummern hat die WirtschaftsWoche bestellt - und stellte ihre Zerstörung nach.

Yeeper leuchtende Turnschuhe
Originalpreis: 29,99 Euro
Es ist eine riesige, bislang unentdeckte Wert- und Rohstoffvernichtung im Gange, getrieben von tiefpreissüchtigen Konsumenten, retournierfreudigen Internetbestellern, sich selbst überholenden Produktherstellern. Vor allem aber von Amazon. Dem größten, mächtigsten und wertvollsten Onlinehändler der westlichen Welt.

Aus dem Katalog bestellt wurde hierzulande auch schon in den Fünfzigern. Doch erst Amazon hat das Paketgeschäft auf alle Lebensbereiche und Warengruppen ausgedehnt - und die Kunden teils mit kostenlosen Lieferungen und Rücksendungen beglückt. Millionen Menschen machen davon Gebrauch. Mehr als 400 000 Spielwaren und über eine Million Modeartikel schlug Amazon in Deutschland allein bei der Prime Day getauften Rabattschlacht im vergangenen Jahr los, innerhalb weniger Stunden. Rund 15 Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftete das US-Unternehmen 2017 hierzulande. 

Handelsriese Amazon

Welchen Anteil hat Amazon am deutschen Onlinehandel?

12 Prozent
37 Prozent
46 Prozent
FALSCH
FALSCH
RICHTIG
Im nordrhein-westfälischen Rheinberg steht Tim Schmidt am Rand einer Schnellstraße und deutet auf den lang gestreckten grauweißen Flachbau hinter sich. Auf dem Gebäude prangt der Schriftzug amazon.de. Jahrelang hat er hier gearbeitet. Schmidt war Betriebsrat, wechselte später zur Gewerkschaft Verdi, wo er sich bis heute um das Logistikzentrum des Versandriesen kümmert. Von hier aus verschickt Amazon an Spitzentagen bis zu 300 000 Pakete. Aber ein Teil der Ware, sagt Schmidt, verlasse das Lager nicht Richtung Kunden - sondern lande im Schrott. Handys, Tablets und andere Technikartikel seien darunter, "begehrte Ware, teure Ware", die einfach keine Verwendung finde.

Aktuelle Fotos aus dem Inneren des Logistikzentrums belegen seine Aussagen. Dutzende knallgelbe Kisten sind darauf zu erkennen, ordentlich gestapelt auf Holzpaletten und randvoll mit Spielzeug und Technik. Ein anderes Bild zeigt mehrere wuchtige Industriepressen, die sich ebenfalls in der Lagerhalle befinden. Damit würden Produkte zerkleinert, für die Amazon keine Verwendung habe, sagt Schmidt. "Presse auf, Ware rein, Presse zu: Das ist ganz einfach."
Hier lagert Amazon die Artikel für die Entsorgung
Ein Amazon-Sprecher will den Einsatz der Verschrottungsmaschinen nicht kommentieren. Das Unternehmen teilt lediglich mit, dass Amazon "jeden Tag an der Verbesserung von Prozessen" arbeite, um "so wenig Produkte wie möglich entsorgen zu müssen". Wenn Produkte "nicht verkauft, weiterverkauft oder gespendet werden können, arbeiten wir mit Aufkäufern von Restbeständen zusammen, die diese Waren weiterverwenden."

Amazons Mitarbeiter sehen das ganz anders. "Vernichtet wird eigentlich alles, was nicht niet- und nagelfest ist", sagt Norbert Faltin. Der Mann ist 58 Jahre alt und ehemaliger Betriebsratsvorsitzender bei Amazon in Koblenz. Er ist Mitglied der katholischen Arbeitnehmerbewegung und heute ebenfalls in Diensten von Verdi unterwegs. Faltin kennt die Gesetze der Branche. Und er weiß, dass in Koblenz gerne Saisonartikel entsorgt werden, aber auch Parfüms und Kosmetik.
Verbogener Lockenstab

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Neupreis: 42,90 Euro
In anderen Lagern sind ganze Entsorgungsteam im Einsatz. Linda Kerkhoff hat lange in einem solchen Team gearbeitet. Ihren wahren Namen mag sie nicht in der Zeitung lesen, sie hat Angst um ihren Job. Aber sie berichtet detailliert über ihre Arbeit, über die Fernseher, Beamer, Rasenmäher, Kühlschränke und Waschmaschinen, die sie täglich beseitigen musste. "Das waren neuwertige Sachen", sagt sie. Teils mit kleinen Macken oder Schönheitsfehlern, in der Regel aber völlig funktionstüchtig. Über ein Softwaretool seien ihr die jeweiligen Produkte angezeigt worden. Intern wurde dann zwischen "Liquidation" und "Crash" unterschieden. Bei Liquidation sei der Müll abtransportiert worden. Bei Crash wurden die Waren auf dem Hof zerstört und landeten im Container. "Das scheppert dann richtig."

Und es schepperte oft. Rund 13 Großgeräte wie Wasch- und Spülmaschinen habe sie pro Schicht geschrottet, sagt Kerkhoff. Autoreifen, Tische, ganze Möbelpakete seien dabei gewesen, an manchen Tagen "bestimmt 15 Matratzen". Sie schüttelt den Kopf: "Was für ein Irrsinn." Kerkhoff hat überschlagen, welche Werte in den Containern landeten: "Jeden Tag habe ich Waren im Wert von ungefähr 23 000 Euro vernichtet." Und fügt hinzu: "Wir waren mehrere Arbeiter". Amazon will sich zu Zahlen- und Produktangaben nicht äußern.

Elf Logistikzentren betreibt der Internet-Versand-Marktführer hierzulande. Das Bestellvolumen steigt, wie im gesamten deutschen Online-Handel. 
Amazon in Deutschland
Logistikstandorte von Amazon in Deutschland
Fläche in Quadratmetern
Doch die Deutschen ordern nicht nur nach Kräften, sie schicken auch all jene Dinge beherzt retour, die nicht passen, nicht gefallen, zu spät ankommen oder defekt sind. Wohl keine andere Nation bestellt so eifrig Produkte, die sie dann nicht behält. Logistikexperten schätzen, dass jedes Jahr mehr als 250 Millionen Pakete zurück an den Absender gehen - und der heißt oft Amazon.

"Viele zurückgegebene Produkte können als neuwertig weiterverkauft werden", teilt das Unternehmen mit und verweist auf das Amazon-Warehouse-Angebot, wo "zurückgesendete, geöffnete und kaum benutzte Produkte" mit Preisabschlägen verkauft würden. Auch externe Anbieter könnten zurückgegebene Artikel über Amazon weiterverkaufen, so die Pressestelle.

Kostenfaktor Retouren

Welcher Anteil der Rücksendungen in Deutschland kann wieder als Neuware weiterverkauft werden?

65 Prozent
70 Prozent
85 Prozent
FALSCH
RICHTIG
FALSCH
Zersägte Werkzeuge

Minischraubendreher, Werkzeugset
Neupreis: 7,99 Euro
Dieser Marktplatz ist mittlerweile Amazons wichtigster Erfolgsfaktor als Onlinehändler. Schon früh entschied sich das Unternehmen, seine Plattform auch für externe Händler zu öffnen. So verkauft Amazon Bücher, Bügeleisen oder Bürobedarf nicht nur auf eigene Rechnung, sondern gibt externen Händlern die Möglichkeit, ihre Produkte auf dem Amazon-Marktplatz anzubieten. Erst durch diese externen Händler konnte Amazon ein wirklich breites Angebot präsentieren. 

So wurde aus einem einfachen Bücherversand der Onlinehändler im Internet, bei dem einfach alles zu haben ist. Kaum eine Handelsmarke betreibt mittlerweile keinen eigenen Amazonshop. Und auch viele Billiganbieter aus Asien oder Amerika nutzen Amazon als Sprung in den europäischen Markt.

Oft überlassen die Händler dem Konzern über ein Programm namens "Versand durch Amazon" die komplette Logistik. Sie senden ihre Produkte an Amazon. Der Konzern kümmert sich um alles andere, verschickt die Bestellungen an die Kunden und übernimmt auch das Verpacken und Etikettieren - gegen Gebühr. Die Entsorgung von zurückgeschickten oder nicht verkauften Produkten ist ebenfalls Teil des Service: "Sie können Ihren Lagerbestand auf Wunsch von uns entsorgen lassen", heißt es in einer Gebührenübersicht.
Lagergebühren
je Kubikmeter
Saisonzuschlag
(Oktober bis Dezember)
Langzeitgebühren ab sechs Monaten
Langzeitgebühren ab einem Jahr
26 Euro

pro Kubikmeter Lagerfläche zahlen Händler an Amazon
36 Euro

kostet der  Kubikmeter Lagerfläche in der Hochsaison von Oktober bis Dezember
500 Euro

Langzeitgebühren nimmt Amazon, wenn die Artikel länger als sechs Monate lagern
1000 Euro

betragen die Langzeitgebühren ab einem Jahr Lagerzeit
Wie viele Händler davon Gebrauch machen, lässt das Unternehmen unbeantwortet. Es dürften Tausende sein. Das vermuten mehrere Insider. Denn Ware, die sich nicht rasch verkaufen lässt, wird für die externen Anbieter zum Kostenproblem. Zwei Mal im Jahr überprüft der Konzern, welche Artikel sich länger als ein halbes Jahr im Lager befinden, und erhebt für diese Langzeitlagergebühren. Ab sechs Monaten sind 500 Euro pro Kubikmeter fällig, nach einem Jahr 1000 Euro.
Entsorgung ist die günstigste Option

Rückversand
Entsorgung
0,10 Euro

kostet Händler die Entsorgung eines Artikels aus den Amazonlagern
0,25 Euro

kostet Händler der Rückversand ins eigene Lager mindestens
Kurz vor den Stichtagen am 15. Februar und 15. August setzt daher das Großreinemachen ein: Um die Langzeitgebühren zu sparen, können Händler ihre Problemprodukte per Knopfdruck entsorgen. "Pro Einheit" berechnet Amazon dafür im Standardfall zehn Cent. Die Rücksendung an den Händler kostet dagegen 25 Cent. "Deswegen tendieren viele Verkäufer und auch Lieferanten dazu, Ware zu vernichten", sagt eine Amazon-Mitarbeiterin aus Süddeutschland.

Amazon dokumentiert diese Entsorgung akribisch. In schier endlosen Datenkolonnen, die der WirtschaftsWoche und "Frontal 21" vorliegen, werden die Produkte fein säuberlich mit Artikelnummern und Namen aufgeführt. Als Versandmethode steht in den Tabellen "Destroy", also der Befehl zum Zerstören. Hunderte Artikel tauchen in solchen Vernichtungslisten auf - für einen einzigen Tag, in einem einzigen Lager.

Kinderturnschuhe mit bunt blinkenden LED-Lichtern sind darunter, ebenso Dutzende Paare Herrenpantoffeln und Damenboots. Schraubendrehersets, elektrische Kaffeemühlen, Salzlampen und Bluetooth-Kopfhörer. Sie stammen meist von chinesischen Anbietern, die ihre in Asien zu Billigstpreisen produzierten Waren in Deutschland über Amazon verkaufen und versenden.
Wir arbeiten jeden Tag an der Verbesserung von Prozessen, um Produkte für unsere Kunden verfügbar zu halten und so wenig Produkte wie möglich entsorgen zu müssen.
Presseabteilung Amazon
Die vollständige Erklärung von Amzon
Statement von Amazon
Per E-Mail auf Anfrage der WirtschaftsWoche
Rein rechtlich ist die Vernichtung nicht zu beanstanden. Doch passt das Vorgehen in eine Zeit, in der der Überdruss am Überfluss die Debatten dominiert? Fest steht: Während die Deutschen sich seit Jahren daheim in Mülltrennung und Abfallvermeidung üben, verursacht ihre Bestellwut bei Amazon einen regelrechten Entsorgungsrausch - obschon man sich dort gerne rühmt, an einer "nachhaltigen Zukunft" zu arbeiten.

Mitarbeiter halten von derlei Beteuerungen wenig. Häufig reiche eine schmutzige Verpackung oder ein Kratzer im Lack, damit aus Amazon-Neuware Amazon-Abfall wird, berichten sie. Immer wieder wären sie fassungslos, wenn etwa ein chromblitzender Kaffeevollautomat entsorgt werden soll.
Zertrümmerte VR-Brille

Brille für Virtual Reality-Apps
Neupreis: 24,28 Euro
Von einem chinesischen Händler
Christian Krähling kennt das Gefühl. Er arbeitet bei Amazon in Bad Hersfeld. Der Konzern verschickt von dem hessischen Städtchen aus einen Großteil seines Modesortiments. Gleich zwei Lager mit den Namen "FRA 1" und "FRA 3" betreibt der Onlinehändler hier, benannt nach dem nahegelegenen Frankfurter Flughafen und zusammen mehr als 24 Fußballfelder groß. FRA 3, das größere und neuere der beiden Logistikzentren, ist aufgebaut wie eine Festung. Ein mächtiger Klotz, eingezäunt und von einem Graben geschützt. Wer ihn betreten will, muss zunächst eine Brücke überqueren.

Krähling steht am Rand des Grabens und deutet auf zwei große, dunkelgraue Trichter an den hellen Außenwänden des Lagers. "Da sind die Pressen", sagt er. "Von innen werden die zu vernichtenden Artikel hineingeschüttet, dann werden sie gepresst, landen im Container und werden von der Entsorgungsfirma abgeholt." Der Mann arbeitet in der Qualitätskontrolle von Amazon in Bad Hersfeld, hat als Betriebsrat aber Einblick in alle Unternehmensbereiche. Wie viel genau vernichtet wird, weiß auch Krähling nicht.
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Doch er kommt in Bad Hersfeld oft an einem Areal vorbei, das intern nur "Damage Land" heißt. So liest er es auf den Schildern, die dort über Kisten mit jenen Produkten hängen, welche Amazon nicht mehr verkaufen kann oder will. "Da sind Schuhe und Klamotten drin, meistens Gürtel, Parfüm, alles, was es so an Accessoires und Kleidung gibt", sagt Krähling. Nicht nur vermeintlich wertlose Retourenreste oder Ausschuss von Drittanbietern, sondern auch Kleidung, mit der die IT des Versandkonzerns schlicht nichts anfangen kann. Wenn bei dem Dirndl die Schürze fehlt, würden auch Rock und Bluse vernichtet, sagt Krähling. "Oder Artikel, bei denen der Aufkleber mit den Barcodes verloren gegangen ist und die deshalb nicht mehr zugeordnet werden können." 

Für das interne Computersystem existieren Artikel ohne solche Etiketten nicht. Könnten die Mitarbeiter die Artikel nicht mehr zuordnen, würden sie entsorgt.
Zerbohrter Tageslichtwecker

Wake up Light
Neupreis: 32,98 Euro
"Verschwendung", schimpft Krähling. Dabei gilt Amazon als der wohl fortschrittlichste Onlinehändler der Welt. Ein Technologieriese, dessen Algorithmen das Kundenverhalten rastern, um zu erahnen, was die Nutzer bestellen wollen, bevor diese überhaupt nur auf ihren Warenkorb geklickt haben. "Amazon arbeitet kontinuierlich an der Verbesserung von Nachfrageprognosen und der effektiven Verwaltung von Warenbeständen", sagt denn auch ein Unternehmenssprecher. Externen Verkäufern würden Informationen und Prognosetools zur Verfügung gestellt.

Doch jeder Artikel, der in die Pressen des Konzerns wandert, zeigt die Grenzen der hochgelobten Amazon-Algorithmen - und legt nahe, dass Amazon seine Kunden doch nicht so gut kennt, wie immer behauptet.

Das verstehen inzwischen auch Politiker auf der ganzen Welt - und wollen Amazon und all die anderen zwingen, unverkäufliche Ware sinnvoll zu verwenden.
Das ist ein riesengroßer Skandal, denn wir verbrauchen auf diese Weise Ressourcen mit allen Problemen insgesamt auf der Welt. Ein solches Vorgehen passt einfach nicht in diese Zeit.“
Jochen Flasbarth, Staatssekretär 
im Bundesumweltministerium
In Frankreich etwa wird die Einführung einer Spendenpflicht für unverkaufte Kleidung diskutiert. Anbieter wie der Onlinehändler Zalando stehen dem französischen Vorstoß "positiv gegenüber". Ein Amazon-Sprecher verweist darauf, unter anderem bereits Spielzeug, Schuhe, Kleidung und Drogerieartikel gespendet zu haben.

Tatsächlich geben auch andere Händler an, gerne mehr spenden zu wollen. Doch das deutsche Steuerrecht macht es ihnen schwer. Neuware zu spenden ist für Unternehmen teurer, als diese einfach zu vernichten. 
Warum es so teuer ist, Neuware zu spenden
Das deutsche Steuerrecht erschwere "eine unkomplizierte Weitergabe an gemeinnützige Zwecke", heißt es beim Discounter Aldi. Auch bei Kaufhof sieht man sich "mit komplizierten Verwaltungstätigkeiten und Regeln des Umsatzsteuerrechts konfrontiert".

Es sei ein "echtes Dilemma", sagt Harald Elster, Präsident des Deutschen und des Kölner Steuerberater-Verbands, und fast schon qua Amt ein Mann, den eigentlich nichts aus der Ruhe bringt. Aber beim Thema Sachspenden gerät Elster in Wallung. Die Finanzbehörden, erklärt er, bewerteten Sachspenden wie Umsatz, auf den das Unternehmen eben Umsatzsteuer zahlen muss.

Denn die Ware, so das Argument, wurde auch mit Vorsteuerabzug eingekauft. Wird ein Produkt dagegen vernichtet, gilt es als wertlos, es fällt keine zusätzliche Steuer an. Für Unternehmer läuft das auf eine einfache Rechnung hinaus. "Ist die Entsorgung billiger als der Steueraufwand, werden die Produkte weggeworfen", sagt Elster. Für Menschen, die von den Spenden profitieren würden, sei das "kaum nachvollziehbar" und aus Umweltsicht "im Grunde eine Sauerei". Doch Aufgabe des Steuerrechts, so Elster, sei es eben auch, zu verhindern, dass Spenden den Wettbewerb verzerren, weil zu viele Produkte unversteuert weitergereicht werden.

Berühmt wurde vor einigen Jahren ein sächsischer Bäcker, der mehr als 5000 Euro Steuern nachzahlen sollte, nachdem er Brot vom Vortag an die Tafeln gespendet hatte. Die Behörden lenkten ein und legten fest, dass Lebensmittel kurz vor Ablauf der Mindesthaltbarkeit keinen Wert mehr haben, weshalb beim Spenden keine Umsatzsteuer anfällt.

Nach und nach wird das Prinzip zwar ausgedehnt, gilt inzwischen nicht mehr nur für Lebensmittel. Doch noch immer bleibt ein großer Teil des Warenbestands aus Steuergründen nahezu unspendbar.
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Spendenorganisationen fordern deshalb Gesetzesänderungen. Sie wollen, dass es für Unternehmen günstiger ist, ihre Neuware an gemeinnützige Zwecke zu verteilen. Greenpeace geht noch weiter: 
„Wir brauchen ein gesetzliches Verschwendungs- und Vernichtungsverbot für neuwertige und gebrauchsfähige Ware“, sagt Greenpeace-Expertin Kirsten Brodde.

Doch will keine Partei mit solchen drastischen Maßnahmen gegen Verschwendung vorgehen. Für viele der Amazon-Ladenhüter gilt deshalb weiter: Presse auf, Ware rein, Presse zu - und ab in den Container.
„Wir brauchen ein gesetzliches Verschwendungs- und Vernichtungsverbot für neuwertige und gebrauchsfähige Ware.”
Kirsten Brodde, Greenpeace
Text: Henryk Hielscher, Jacqueline Goebel, Mario Brück; Produktion: Jacqueline Goebel, Thomas Stölzel, Marcel Stahn; Video: Patrick Schuch; Fotos: SCHMOTT PHOTOGRAPHERS; Produziert mit Storyflow
12. Juni 2018
© WirtschaftsWoche 2018
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